Plötzlich stockt mein Atem, während dessen ich mich im Badezimmerspiegel beobachte. Ich habe mit mir selbst Blickkontakt und erkenne Sprachlosigkeit und eine aufkommende Angst in meinen Augen. Die Unheimlichkeit dieser Situation lässt - für einen Moment - alle meine weiteren Bewegungen einfrieren. Ich weiß, dass ich alleine im Hause bin. Wie jeden Abend habe ich die Fensterläden geschlossen und die Haustüre mit dem Sicherheitsschloss verriegelt. Vorsorglich habe ich, bevor es dunkel wurde, noch mal von innen am Garagentor gerüttelt, um mich zu vergewissern, dass es zu ist. Seitdem ich alleine bin, habe ich Angst vor der Nacht, Angst alleine zu sein. Und nun höre ich Geräusche, nicht irgendwelche undefinierbaren Geräusche, sondern ganz spezielle aus dem oberen Stockwerk meines Hauses. "Das Badewasser rauscht", stelle ich mit Erschrecken fest. "Und mit welcher Macht schießt es im oberen Badezimmer in die Wanne hinein!" "Es ist außer mir niemand im Hause - oder?" ist mein nächster Gedanke. Mittlerweile stehe ich am Fuße der Treppe, die in die obere Etage führt und bin auf alles gefasst. Jetzt bemerke ich, dass jemand mittlerweile das Badewasser abgedreht haben muss, ich höre ein Plätschern und, was mich noch mehr erzittern lässt, eine vertraute Männerstimme, die leise vor sich hin singt. "Jo - er ist wieder da", ist mein nächster Gedanke. Es ist kaum zu fassen, dass ER da sein soll. Wir haben ihn doch letzten Monat zu Grabe getragen. Er kann nicht oben in der Badewanne sitzen und singen. Vorsichtig und kaum zu hören, steige ich auf Zehenspitzen Treppenstufe für Treppenstufe nach oben. Mein Blick fällt auf die, nur ein ganz klein wenig geöffnete Badezimmertür, durch die ein Lichtstrahl, ein ganz schwacher dünner, nach draußen zu mir dringt. Wieder diese furchtbare Angst, die mir den Hals rauf steigt und mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen droht. Und nun höre ich Musik, leise Musik, und ein "Komm doch herein, Kleines", veranlasst mich, ganz langsam die Türe zu öffnen. Die Badewanne ist leer. Ich starre auf das Wasser, auf welchem ein rotes Rosenblatt schwimmt. Nur die Wellen, die Jo verursacht, plätschern an die Badewannenwand. Ich entkleide mich langsam, hebe meinen Fuß über den Rand der Badewanne und steige in das Wasser, ganz vorsichtig, um IHM so wenig wie möglich Platz wegzunehmen. Nun liege ich ganz ruhig in diesem Wasser, fühle seinen Blick, der auf mir ruht, beobachte die Wellen, die mir so viel erzählen, dazu seine Stimme, die singt ..
Ich sehe sie alle, wie sie da sitzen. Mein Mann, meine Kinder, meine Tante Emmy, Onkel Jonas, Brigittchen, Paul, Sebastian und die vielen anderen, ach ja, Cousine Charlotte und Bernd sitzen in Achterreihen der Leichenhalle, die außerdem penetrant nach frischem Grün duftet. Man könnte eine Stecknadel fallen hören, so still ist es, ab und zu hüstelt jemand und dann schnupft sich jemand ins Taschentuch. Extra laut. Tante Emmy - natürlich! Wie traurig sie heute alle aussehen, kein Wunder, sie sind ja heute hier auf meiner Beerdigung. Extrem verzweifelt gucken alle, obwohl doch die meisten von ihnen vorhin noch tüchtig gelacht haben. Und Bernd machte sich doch schon Gedanken, ob mein Mann nicht schon wieder eine andere hätte? Charlotte hat es zumindest nicht ausgeschlossen, sie hatte ja schon immer ein loses Maul. Sebastian rief eben noch die Bahn an, um sich zu erkundigen, wann der nächste Zug fahre. Wie er sich geärgert hat, dass er noch 2 Stunden warten muss. Aber er hatte sich ja - dummerweise - mal dazu entschieden, zu meiner Beerdigung zu kommen. Mein Mann ist froh, wenn der ganze Zauber vorbei ist. Sollte er etwa nicht traurig sein, dass ich tot bin, nach 36 Ehe-Jahren? Aber er ist ja Realist. Das Leben muss ja weitergehen. An eine andere Frau denkt er zurzeit noch nicht, aber wie lange? Wie heißt es so schön? Wir sind ja auch NUR Menschen! Sicherlich wird er eine andere finden, aber ob die es mit ihm aushält? Ich weiß, dass ihn die ganze Verwandtschaft nervt. Wenn sie nur alle schon wieder weg wären! Dann könnte er endlich mal die Versicherungsmappe hervorholen und nachschauen, was zu tun und zu kriegen ist? Meine Kinder, ach ja, ich sehe sie da vorne sitzen. Ich muss fast mit weinen, wenn ich sie da so traurig sitzen sehe. Sie sind zwar schon alles erwachsene Männer, aber sie haben mich doch immer so lieb gehabt. Ich sie doch auch! Sie waren doch eigentlich der Inbegriff meines Lebens. Weint nur Kinder - wie Techt Ihr habt! O Gott, die Schwiegertöchter. Da sitzen sie, in der zweiten Reihe, die eine hat eine Laufmasche, die ihr ungemein wichtig ist. Ich sehe sie alle - ich schwebe nämlich über meinem offenen Sarg, in dem mein Körper liegt. Ich habe bevor ich starb, darum gebeten, möglichst lange den frischen Wind atmen zu können und jetzt erfüllen sie mir diesen Wunsch. Man hat frische Orchideen gekauft, die meinen Körper einrahmen. Wieso hat mein Mann bei den Bestattungsvorbereitungsgesprächen nicht erwähnt, dass ich keine Orchideen mag, weil ich allergisch darauf reagiere? Wenn man nicht alles selbst in die Hand nimmt! Der Pfarrer hält eine langweilige Rede. Warum geht er nicht auf mein Leben ein? Warum erzählt er nichts von mir? Wen interessiert schon das alte Testament? Und seine schwule Stimme verleitet einen dazu, über einen Kirchenaustritt nachzudenken. Ich bin schon ziemlich enttäuscht. Hätte man mich gefragt ... Ein engagiertes Streich-Ensemble beginnt zu spielen. Drei an Trauerweiden erinnernde, in anthrazit-schwarzes Tuch gehüllte Gestalten sind dabei, ihre Instrumente zu vergewaltigen. Ich kann gar nicht hinschauen, erst recht nicht hinhören - schrecklich dieser Katzenjammer! Ich bin entsetzt. Wer hatte das arrangiert? Ich halte das nicht aus. Nach einigen zähen Minuten - Gott sei Dank. Sie sind wohl fertig. Sie senken Ihre Instrumente. NEIN - Schon wieder setzen sie an, ich sehe wie Paul, mein Patenkind, sich vor Lachen kaum halten kann, er wird von seiner Mutter in die Seite geschubst, aber sie kann es nicht wagen, ihn anzuschauen, weil sie sonst selbst lachen muss. Ich bete. Ja, ich bete darum, dass die Streicher endlich mit ihrem Stück enden. Ich bin mir absolut sicher, dass ich es nicht länger ertragen kann. Ich kann für nichts mehr garantieren. Außerdem kitzelt mich die Orchidee ungeheuerlich an der Nase. Ich habe jetzt keinen Nerv mehr hier oben. Zurzeit befinde ich mich noch hier oben auf einer imaginären Ebene über meinem Körper, aber ich verliere an Höhe, ich sinke hinab und ich tauche ein ... Ich schlüpfe wieder in meinen Körper, mein vorherrschender Gedanke ist, mich am Riemen zu reißen, um nicht laut vor Lachen los zu brüllen, wegen dem jämmerlichen Geigen-Geleiere. Die Orchidee neigt sich hinunter an mein Gesicht. Sie berührt meine Nase und kitzelt noch mehr. Ich verspüre Gefühl. HURRA !! Ein menschliches Gefühl!!!! Will ich wirklich versuchen zu vermeiden, schrecklich zu nießen! Nein - doch - nein - HATSCHI !!! Der ganze Sarg wackelt. Die Geiger enden abrupt. Und auf meine Frage, während ich aufrecht in meinem Sarg sitze "Hat jemand ein Taschentuch" springen alle herbei. Ich bin wieder da!
Joana saß gedankenverloren vor der großen weißen Tür, die sich bis jetzt noch nicht öffnete. Sie saß schon eine ganze Weile hier auf diesem ebenfalls sterilen weißen Stuhl, der ihr unbehaglich war. Sie war die einzige Patientin, die jetzt noch, spätnachmittags, hier auf den Professor wartete. Nein, sie wartete nicht auf den Professor, "man" wartete auf sie. Sie wäre niemals freiwillig hierhin gegangen, wenn Mutter es nicht unbedingt verlangt hätte. Ihre Hände verkrampften sich in ihr Taschentuch, sie versuchte sich immer wieder den Schweiß abzuwischen, der sich unwillkürlich und unbeabsichtigt bildete. Ihr Blick haftete auf der Tür, die sich einfach nicht öffnete. "Was soll ich hier?", war ein kurzer widerspenstiger Gedanke, der "ihre Welt" streifte. Es gingen Hunderte von Gesprächen voraus, die sie mit ihrer Mutter geführt hatte. Mutter wollte, aber konnte sie wohl nicht verstehen und bekam jedes Mal rote Flecken und einen schrecklich traurigen Blick, wenn dieses Thema, "ihr" Thema, immer wieder "auf den Tisch" kam. Wie glücklich wäre Joana gewesen, hätte es einen Menschen gegeben, der sich für "ihre Welt" interessiert und ihr zugehört hätte. Aber sie lebte alleine mit ihrer Mutter, einen Vater hatte es nie gegeben. Und Geschwister konnte sich Mutter, damals, als Alleinerziehende, als Joana noch klein war, "nicht leisten". Wenn Joana einen Menschen auf dieser Welt liebte, dann war es ihre Mutter. Joana hatte nur einen einzigen Wunsch: sie fieberte dem Moment entgegen, wo Mutter sie verstehen und sie wieder froh und unbeschwert in die Arme nehmen würde. Joana wünschte sich nichts MEHR, als dass Mutter sie nicht als KRANK abstempeln würde, sondern DAS verstehen könnte, was sie ihr mitteilen wollte - DAS, was die meisten Menschen noch nicht in der Lage waren, zu verstehen. Der verträumte Ausdruck ihrer Augen verriet Zufriedenheit. Joana träumte. Und sie merkte gar nicht, wie gut es ihr tat, dass der Professor immer noch nicht diese gottverdammte Türe öffnete. Sie war in ihren Gedanken - zurück … Sie schwebte an der Decke der Intensivstation und betrachtete ihren leblosen Körper, der ihr zwar vertraut, aber trotzdem irgendwie fremd vorkam. Sie betrachtete sich, dort unten, ihr Gesicht, ihre reine Haut, sie entdeckte das Rouge, welches sie sich kurz vorher aufs Gesicht gepudert hatte, ihre Augenwimpern, die sie noch kurz vorher, im Bistro, nachgetuscht hatte, sie sah ihre Hände, mit den kurzen Fingernägeln, die sie sich gerne länger gewünscht hätte, sie erkannte den Ring an ihrem Finger, einen billigen Freundschaftsring, den ihr Christian noch am letzten Wochenende schenkte. Sie bemerkte ihre Blässe, die ihr - wie Marmor - vorkam. Joana bemerkte das Lächeln um ihren Mund, und sie wusste warum, WARUM ihr Mund, ihr lebloser Mund lächelte. Ihre Augen hatte sie gesehen … die Zukunft … Sie befand sich in einem langen Tunnel, einem Tunnel, der einem entfernten Ziel entgegenführte, ein Ziel, welches anfangs nur stecknadelgroß ein Licht erahnen ließ, welches immer größer werdend, sich wie ein Magnet verhielt, sich unentbehrlich machte und nur ein einziges Ziel zu haben schien, Joana zu "verschlingen". Joana war ohnmächtig sich dagegen zu wehren, denn dieser Reiz, diese Gier, diese Unbedingtheit dieses Ziel, dieses wahnsinnig wohltuende Licht zu erreichen, lähmte sie. Sie ließ sich mitreißen, mitreißen … Sie begegnete Freunden, Verwandten, Menschen, die ihr zuwinkten, Menschen, deren reiner Anblick ihr ungeheuerliches Wohlbehagen brachte. Und es war so angenehm warm, so ruhig und glückselig - alles. Und alles Irdische verlor an Gewicht. Es interessierte sie überhaupt nicht mehr. Auch Mutter schien ihr weit entfernt. Joana ahnte, dass dies etwas Himmlisches sein musste. Es konnte nicht sein, dass es nur ein Traum sei. "Oh Gott, nein, lass es nicht nur ein Traum sein", entfuhr es ihr, als der Professor sie am Arm rüttelte, ihr in die Augen schaute und sie ohne ein Wort zu sprechen in sein Behandlungszimmer führte ... Seine Augen verrieten ihr seine Gedanken. Und seine Gedanken gefielen ihr nicht. "Sein Bestes wolle er geben" - waren nur leere Worte, mit der er Joanas Mutter beruhigen wollte. Joana wusste es besser. Der Professor wollte sie in die Psychiatrie einweisen. Er hatte schon ein Zimmer für sie bereitstellen lassen. Sie konnte mancher Leute Gedanken lesen. Seit vor ein paar Tagen - als sie mit Christian - verunglückte, und nur für einen kurzen Moment in den Himmel schauen konnte. Christian hatte es "gepackt". Wie gerne wäre sie ihm damals gefolgt. Er hatte ihr noch ein letztes Mal zugewinkt, ihre Finger berührten einander und ließen sich schließlich los, ihre Augen wollten sich nicht von einander trennen, aber plötzlich hörte sie die Stimme ihrer Mutter: "Joana - ich brauche Dich, Joana, mein Leben." Viel zu gerne wollte sie Christian folgen - denn die Wärme und die ALLES versprechende Atmosphäre, die das Licht, welches Christian umhüllte, wollte sie verleiten, dem Leben gerne "Adieu" zu sagen. Doch Mutter … unten neben ihrer menschlichen Hülle stehend … erstickte fast an ihren Tränen. "Joana …" Joana saß gottverloren auf der schmalen Pritsche, mit der sterilen Papierabdeckung. Sie hatte den Kopf gesenkt, als sei sie von der Welt verstoßen und wäre bereit alles, aber auch wirklich alles, zu ertragen. Sie wusste, was der Professor mit ihr vorhatte, sie wusste, dass "dies hier" für sie die Endstation war. Und dennoch freute sie sich … … ENDLICH ohne Störenfriede, ohne verständnislose Menschen, ohne Besserwisser, ihren Gedanken nachhängen zu können - endlich in die wunderbare Welt, die sich ihr - wenn auch nur für einen kurzen Moment - der ihr aber für ihr Leben genügte - einzutauchen. Nur schade … dass Mutter nicht mitkommt!